Die kritische Größe

Freitag, 01. April 2011 13:58


In der Organisationsentwicklung kennt man das Problem, das Unternehmen, die wachsen, ab einer bestimmten Mitarbeiterzahl, meist um die 100, Schwierigkeiten mit den internen Prozessen, der Kommunikation und somit der Fortführung des Wachstumsprozesses bekommen. Die Lösung, die vielerorts gewählt wird, Einführung von Organisationsstrukturen, bedeutet nicht selten eine noch größere Herausforderung.




Vielleicht kennen Sie das aus eigener Erfahrung. In einem Start-up kennt man sich. Die Kommunikationswege sind direkt. Probleme und Konflikte werden im kleinen Team gelöst. Die Arbeit macht trotz erheblicher Belastungen Freude, weil man sich als Teil eines Ganzen sieht. So sicher wie jedes Jahr der Frühling zurückkehrt, so sicher ist es, dass immer wieder neue Unternehmen mit brillanten Ideen und viel Engagement einen rasanten Wachstumsprozess durchlaufen. Doch unkontrolliertes Wachstum sorgt eben auch für Probleme.

Irgendwann ist es soweit, dass man nicht mehr den Vornamen von jedem neuen Mitarbeiter kennt. Plötzlich ist auch unklar, was XY eigentlich genau macht. Das ist der Nährboden für Spekulationen und Unzufriedenheit, die, gedüngt durch den hohen Erwartungsdruck, das kreative Projekt in Misskredit bringt.

Führungskräfte, die eigentlich an flache Hierarchien glauben, schreien dann nach Struktur. Plötzlich rückt Weiterbildung, Personal- und Organisationsentwicklung in den Fokus und es findet sich ein Externer, der als HR-Experte den Karren aus dem Dreck ziehen soll. Das heimliche Motto dieser Mission: „Wasch mich, aber mach mich nicht nass!“ Der Leidensdruck zwingt die Organisation zu Veränderung, doch zunächst ist die rationale Einsicht noch nicht stark genug, um auch Emotion und Motivation für den Wandel stabil zu halten. Der Grund dafür: Die gewünschte Veränderung bedeutet für viele eine notwendige und doch unbequeme Einschränkung.

Tatsächlich leidet unter den neuen Strukturen auch die Flexibilität. Das Wesen der Struktur ist ja, dass sie einschränkt, ordnet und sichert. Das Motto der Innovation dagegen lautet: Grenzen überschreiten. Mithin hat die Organisation, die weiter wachsen will, einen internen Interessenkonflikt. Sie steht vor einem Dilemma. Zwei Alternativen, die beiden nicht besonders attraktiv erscheinen, tun sich auf. Entweder man bleibt jung dynamisch und klein oder man wächst und erstarrt in Bürokratie. 

Sicher erwarten Sie an dieser Stelle den Quantensprung, einen Rat, wie es möglich ist beides zu verbinden, das Wunder auf dem Industriecampus. In der Regel ist es so, dass die Unternehmen erwachsen werden und sich von dem, was ihnen einst Freude gemacht hat (und die Grundlage ihres Erfolges war) verabschieden. Sie müssen sich neu erfinden. Das geschieht in der Regel in folgendem Prozess:




Das klingt einfacher als es tatsächlich ist, denn schon diese Struktur steht für viele Unternehmen im Widerspruch zu ihrer chaotischen Unternehmenskultur. Mithin bedeutet die Entscheidung für den Change-Prozess den wichtigsten Schritt für die Veränderung. Die Motivation hält die Etappen des Prozesses zusammen. Sie speist sich immer aus zwei Bereichen: Leidensdruck und Erfolgserwartung.

Wirklich genialen Unternehmen und Führungskräften gelingt es, das Kleine im Großen zu bewahren, in dem man Spin-Offs macht, also Teile ausgliedert oder Bereiche schafft, die in weiten Teilen autonom voneinander agieren und eigene Identitäten aufbauen, in denen all die Flexibilität der Start-ups erhalten bleibt. Doch auch diese Teile stehen vor der Aufgabe über koordinierende Führungskräfte miteinander zu kommunizieren, was ein hohes Maß an Schizophrenie von den Chefs verlangt, die auf der einen Seite spontane Initiatoren im Kleinen und weitsichtige Strategen im Großen sein sollen.

Solche Menschen zu finden, ist die Aufgabe von Recruitment und Personaldiagnostik. Wer hat das Potenzial, beide Teile zu bedienen? Eine Potenzialanalyse kann Aufschluss geben, kann Tendenzen und Stärken finden, doch der Zwiespalt der Aufgabe, ein ewiger Balanceakt, bleibt…vorausgesetzt man möchte wirklich beides: Überschäumende Inspiration und Innovation PLUS geordnetes, sicheres Wachstum.

Wenn Sie in einem Unternehmen arbeiten, das bald in die kritische Phase kommt, gilt es zunächst, der Wahrheit ins Auge zu sehen und mutige Entscheidungen zu treffen. Personal-und Organisationsentwicklung, gerade von extern mit Erfahrung in diesen Change-Prozessen, kann helfen. Letztendlich ist eine kritische Phase eine Zeit der Chancen, in der es vor allem darauf ankommt, die eigenen Prioritäten zu klären und zu handeln.  

Dieses Handeln kann auch darin bestehen, auf die Bremse zu treten und eine Art Tempolimit für die MA-Zahl einzuführen. Wenn der Weg dann frei ist und die Organisation „gewartet“, kann die mögliche Ent- oder Beschleunigung um so effektiver erfolgen.

©2010 Personalentwicklung 3000 Thomas Lang, Berlin